Kindertotenlied

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  • ISBN: 978-3426199800
  • Mein Rating: 7/10

Eine Lehrerin wird in ihrem Haus ermordet. Der Tat verdächtigt wird einer ihrer Schüler, der verwirrt am Tatort angetroffen wurde. Dabei handelt es sich um den Sohn einer früheren Geliebten von Kommissar Martin Servaz. Zusammen mit seinem Team beginnt er mit den Ermittlungen. Schon bald stossen sie auf Hinweise, die auf einen Serienmörder hindeuten, der vor mehr als einem Jahr aus dem Gefängnis ausgebrochen und seither verschwunden ist...

Ich fand Kindertotenlied spannend geschrieben mit interessanten Charakteren. Dem Autor gelingt es, einen bis zum Schluss im Ungewissen zu lassen, wer nun der Täter war. Was ich nicht mochte, ist, dass das Buch nach rund 650 Seiten mit einem Cliffhanger endet. Der eigentliche Fall wird zwar gelöst, doch am Schluss findet man heraus, dass die verschiedenen Einschübe nichts mit der aktuellen Geschichte zu tun haben, sondern quasi eine Vorschau sind auf das, was nachher mit einer Person geschieht...

Zitate aus dem Buch

Sie trug keinerlei Kleidung, war nackt wie ein Neugeborenes. Seit Monaten, seit Jahren vielleicht. Ihre Notdurft verrichtete sie in einen Eimer, und zweimal täglich erhielt sie eine Mahlzeit – ausser wenn er verreiste. Da konnte es vorkommen, dass sie mehrere Tage ohne Essen und Trinken auskommen musste, und Hunger und Durst und Todesangst setzten ihr dann zu.

Wie lange schon war sie eingesperrt? In ihrem Grab gab es weder Tag noch Nacht. Denn das war es: ein Grab. Aus dem sie nicht mehr lebend herauskommen würde, das wusste sie in ihrem Innersten. Seit langem hatte sie jede Hoffnung aufgegeben.

Dieses Leben, das ihr so banal vorgekommen und das doch in jedem Augenblick ein Wunder gewesen war. Warum hatte sie es nicht mehr genossen? Aber ihre Reue kam zu spät. Selbst die Momente von Kummer und Leid waren nichts im Vergleich zu dieser Hölle. Zu diesem lebendigen Begrabensein, jenseits der Welt.

Die Leute lachten, plauderten, kamen und gingen, lebendig und frei. Sie ahnten nichts von ihrer Gegenwart, ganz in ihrer Nähe, von ihrem langsamen Sterben, ihrem Sklavendasein...

Trotzdem hatten sie geheiratet und sieben Jahre durchgehalten. Er wusste noch immer nicht, wieso sie so lange gebraucht hatten, um das Offensichtliche zuzugeben: Sie passten so schlecht zusammen wie ein Taliban und ein Flittchen.

Noch heute sah seine Tochter mit ihren Piercings, ihren bizarr gefärbten Haaren und ihren Lederjacken absolut nicht aus wie eine Klassenbeste.

"Du hättest dich etwas ansprechender kleiden können." - "Warum? Sie interessieren sich für mein Gehirn, nicht für meine Klamotten."

Servaz warf ihm einen Blick zu, der die Temperatur von flüssigem Stickstoff hatte.

Er wusste jetzt, die Erinnerung an eine Frau, die man geliebt hat, konnte man loswerden, an einen Freund, der einen verraten hat; nicht aber die an einen Vater, der sich umgebracht und dafür gesorgt hat, dass du – du! – seine Leiche finden musst.

Ihr wurde speiübel. An einem Ast hing eine Katze, das Seil, das sie erdrosselte, schnitt ihr so tief in den Hals ein, dass der Kopf bald abfallen würde.

Sie hätte Vater und Mutter getötet, um diesem Alptraum zu entrinnen.

Servaz sah die Kapellentür, an der die Sprechstunden des Krankenhauspfarrers ausgehängt waren. Er fragte sich, wie Gott wohl seinen Platz in dieser Welt fand, wo der Mensch auf eine Maschine reduziert wurde, wo er wie ein Motor zerlegt und wieder zusammengebaut und gelegentlich sogar auf dem Schrottplatz entsorgt wurde – nach Entnahme einiger Ersatzteile, um andere Motoren zu reparieren.

Seltsam festzustellen, dass sich ein Leben in einigen Sätzen zusammenfassen lässt. Seltsam und deprimierend.

Freiheit weiss man, so wie Gesundheit, erst dann richtig zu schätzen, wenn man sie lange entbehrt hat.

Das Problem mit weissen Westen ist, dass sie schnell schmutzig werden.

Wenn Hirtmann es auf einem Gebiet zur Meisterschaft gebracht hatte, dann auf dem, Leichen spurlos verschwinden zu lassen.

Jeder hat seine Geheimnisse, jeder hat etwas zu verbergen, und niemand ist nur das, was er zu sein scheint.

[...] ihre Schnarchgeräusche hätten als Tonspur für einen Katastrophenfilm über das grosse Erdbeben in Los Angeles dienen können.

"Man kann dem Volk nur auf den Kopf pinkeln, wenn es die Pisse für Regen hält."

Er hatte sich schon oft gesagt, dass eine Zeitmaschine für Typen wie ihn die schönste Erfindung wäre – für Leute, die dazu neigten, erst zu handeln und dann nachzudenken.

Er war mit Frauen nie sehr zärtlich umgegangen. Er hatte sie geschlagen und vergewaltigt, aber was dieser Lehrerin angetan worden war, war einfach unfasslich – selbst für jemanden wie ihn.

Unwillkürlich erschauerten sie, als die Schreie die Stille zerrissen und das wonnevolle Knurren der Molosser, die ihr Herrchen zerfleischten, in die Nacht aufstieg.

"Martin, glaubst du, dass Frankreich morgen gegen Mexico gewinnt?" [...] "Ich hoffe nicht", erwiderte er im Vorübergehen. "Dann könnte man wenigstens wieder über etwas anderes reden."

"[...] heute ist Rauschgift wie Golf: Es wird zum Breitensport."

Er kam sich vor wie ein Gummiband, an dem man zog, um seine Dehnungsgrenze zu testen. Er spürte, dass der Punkt, an dem das Band reissen würde, nicht mehr fern war.

Er hätte sie wahrscheinlich sofort umbringen können. Mit einer Waffe oder indem er ihr den Schädel einschlug. Aber noch zögerte er: Einen Polizisten umzubringen war ein Entschluss, der reiflich überlegt sein wollte.

Er starrte auf die Autobahn vor ihnen, den peitschenden Regen, und wartete, dass das nächste Fahrzeug auftauchte. All seine Sinne waren auf den sicheren, unvermeidlichen Zusammenstoss konzentriert, der jederzeit kommen konnte.

Es machte sie verlegen, als dürfte ein Polizist nicht weinen, zumindest nicht vor seinen Kollegen – und noch weniger im Dienst. Im nächsten Moment hörten sie, wie er in brüllendes Gelächter ausbrach, und da sagten sie sich, dass er übergeschnappt war. Er wäre nicht der Erste. Sie waren keine Roboter; sie mussten den gesamten Unrat der Welt ertragen; sie waren lebende Abwasserkanäle, die die Scheisse sammelten und sie so weit wie möglich vom Rest der Bevölkerung wegtransportierten. Aber nie sehr weit. Die Scheisse kehrte immer zurück.