Die Elenden von Łódź

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  • ISBN: 978-3608938975
  • Mein Rating: 9/10

Die Elenden von Łódź handelt vom Leben im jüdischen Getto von Łódź und dem Vorsitzenden des dortigen Judenrates, Mordechai Chaim Rumkowski. Dieser war eine umstrittene Person. Als Judenältester war er Befehlsempfänger der Deutschen und zur Kollaboration gezwungen, und im Getto trat er autoritär mit diktatorischen Zügen auf. Andererseits versuchte er, das Schlimmste zu verhindern, und das Getto durch die harte Arbeit seiner Bewohner unentbehrlich für die deutschen Wirtschaftsinteressen zu machen, was ihm jedoch letztendlich nicht gelingt...

Die Elenden von Łódź ist ein faszinierendes, aber auch ziemlich brutales Buch, welches einen nachdenklich zurücklässt... Nicht immer klar war für mich, wo die Fakten enden und die Fiktion beginnt.

Zitate aus dem Buch

Alle im Saal bogen sich vor Lachen ausser Józef Rumkowski. Der Bruder des Ältesten war der Einzige im Saal, der nicht begriff, dass der Witz von ihm handelte.

Alles von Wert wurde beschlagnahmt. Wer protestierte oder sich zur Wehr setzte, wurde vor den Augen aller gezwungen, sich den verschiedensten demütigenden Handlungen zu unterziehen. Ein hoher Gestapooffizier spuckte auf die Strasse. Hinter ihm kamen drei Frauen, die sich darum prügeln mussten, wer als Erste zur Stelle war, um den Speichel aufzulecken. Andere Frauen erhielten die Anweisung, die öffentlichen Toiletten der Stadt mit ihren eigenen Zahnbürsten und der eigenen Unterwäsche zu säubern. Jüdische Männer, junge wie alte, wurden vor Wagen und Fuhrwerke gespannt, und man zwang sie, diese vollbeladen mit Steinen oder Abfall von einem Ort zum anderen zu schleppen. Sie dann auszuladen, und gleich darauf wieder alles einzuladen. Normale Polen standen schweigend daneben – oder spendeten töricht Beifall.

Er glaubte auch zu wissen, dass die Deutschen, wenn sie von Juden sprachen, keine Menschen meinten, sondern ein möglicherweise nützliches, im Grunde aber verabscheuungswürdiges Gebrauchsmaterial.

Um das Überleben für ein einziges erwachsenes Individuum im Getto zu garantieren, war eine Lebensmittelration von mindestens einer Mark und fünfzig Pfennigen am Tag vonnöten, also fünfmal so viel wie der von den Behörden festgesetzte Tagessatz.

Es kam vor, dass Leute nicht zur Arbeit erschienen, weil sie in der Nacht in ihren Betten erfroren waren.

Nacht für Nacht wurden die Anwohner der Brzezińska und Jakuba von den Schreien der Gefolterten geweckt; und allmorgendlich – ungeachtet, ob es dort Leichen abzuholen gab oder nicht – wartete Herr Muzyk, der Bestattungsunternehmer, mit seinem Karren davor.

Mit der Suppe ist es nicht weit her – aufgewärmtes Wasser mit etwas Grünlichem darin. Fast alle stürzen sich aufs Essen – auch diejenigen, die anfangs sagten, sie wollten nichts! Es stellt sich heraus, dass diese Suppe die einzige Mahlzeit des Tages ist.

Ich kann nicht schlafen, so entsetzlich ist das Gefühl, nun zu wissen, dass keine Zukunft vor uns liegt... Irgendwo, auf irgendeine Weise muss Hilfe zu finden sein, andernfalls werden wir alle dahinsiechen und sterben... Irgendwo, es muss sie geben...

Er fragt sich, ob Herr Mendel ihn als den Übeltäter erkennt, der in ihr Wohnkollektiv eingebrochen ist. Vermutlich tut er das. Es dauert nur noch etwas, bis ihm die Einsicht kommt. Dass er bei demselben Mann einquartiert ist, der versucht hat, ihm alles, was er besitzt, zu stehlen.

Wie aber sollte überhaupt jemand wissen können, was tatsächlich geschah? In Zeiten wie diesen kümmerte sich niemand um mehr, als dass die eigene Suppenschüssel gefüllt wurde, am besten mit zwei Kellen; und dass die dünne Brotscheibe, die man zum Verzehr bekam, zumindest eine Stunde vorhielt oder auch zwei, ehe die fürchterlichen Hungerkrämpfe aufs Neue einsetzten.

"Allen Juden aus Prag, Berlin und Wien, die das Getto jetzt verlassen, wird andernorts eine Arbeit beschafft. Die Behörden haben mir ihr Wort gegeben, dass niemandes Leben in Gefahr ist und alle Juden, die das Getto verlassen, in Sicherheit gebracht würden." Diejenigen aber, die ihre armseligen zehn Kilo zusammenpackten, die ihnen zur Mitnahme erlaubt waren, stellten sich selbst ganz natürlich die Frage, warum man sich wohl mit ihnen, die doch untersucht und als arbeitsuntauglich gestempelt waren, noch die Mühe machen sollte, sie an einen anderen Ort zu deportieren, um ihnen Arbeit zu geben?

Junge, gesunde Männer und Frauen teilte man einer Gruppe zu, die als A bezeichnet wurde. Die anderen, Kinder, Alte und Kranke, wurden der Gruppe B zugeschlagen. Auf diese Weise riss man ganze Familien auseinander. Die Gruppe B musste zur Seite treten, während die Gruppe A den Befehl erhielt, sich im Laufschritt zum Bahnhof in Bewegung zu setzen. Schon bevor sie dort angekommen waren, konnten sie hören, wie die Deutschen alle Zurückgelassenen erschossen.

Gemeinsam mit Herrn Neftalin, dem Juristen, ging er sämtliche vorhandenen Korrespondenzen durch und liess alle Dokumente verbrennen, die einer eventuellen Nachwelt den Eindruck hinterlassen konnten, dass er den Befehlen der Behörden allzu rasch nachgekommen war oder sich deren wirklichen Inhalt nicht eingestanden hatte. [...] Stattdessen bat Rumkowski, dass Rechtsanwalt Neftalin einen besonderen Archivposten einrichten möge, aus dem nicht nur hervorging, wer deportiert worden war, sondern auch, wem man eine Ausnahmeregelung zugestanden hatte, also bei welchen Personen er persönlich tätig geworden war, um sie zu retten, oder für die er sich auf andere Weise verbürgt hatte.

Seine Jackenärmel waren derart weit, dass er sie umkrempeln musste, um das Bajonett fixieren zu können. Dann stand er breitbeinig da und schaute lachend zu, wie weitere schreiende Säuglinge hilflos von der Fensterbrüstung trudelten. Sobald es ihm gelang, eins der Kinder aufzuspiessen, hob er das Gewehr triumphierend in die Luft, und das Blut lief ihm über die hochgekrempelten Ärmel.

"Kein Mensch gibt freiwillig seine eigenen Kinder her."

"Ich bin heute nicht gekommen, um euch zu trösten; ich bin nicht gekommen, um euch zu beruhigen. Wie ein Räuber bin ich gekommen, um euch die zu nehmen, die ihr am meisten liebt."

"Ich weiss nicht – vielleicht ist es nur ein teuflischer Gedanke, vielleicht auch nicht –, doch kann ich nicht anders, als ihn auszusprechen: 'Gebt mir eure Kranken, und an ihrer Stelle wird man Gesunde retten können.' Ich weiss, wie teuer jedem der Kranke ist, der bei ihm daheim liegt. Doch wenn man vor einem Dekret steht, bei dem man abwägen muss, wer gerettet werden kann und wer nicht, muss man dem gesunden Menschenverstand folgen und diejenigen retten, die die besten Aussichten haben zu überleben, und nicht jene, die ohnehin nicht überleben können..."

Wie konnten sich zwei Arbeiter übereinstimmend bücken, um jeder an seinem Ende einen breiten Bretterstapel anzuheben, während ein dritter Mann zwischen zwei starken Uniformarmen an ihnen vorbei hinausgetragen wurde, mit zerschlagenem, blutendem Kopf. Und niemand sah es, niemand nahm Notiz davon.

Dass Menschen hungern und sterben oder zusammengeholt und deportiert werden, lässt sich wohl ertragen. Aber was tut man gegen die Stille, was tut man gegen all diese entsetzliche Stille?

In den Folterkammern des Roten Hauses sagte er nicht ein Wort. Auch nicht bei der Gegenüberstellung, wobei sie eine Handvoll gänzlich unschuldiger Menschen vor ihm aufreihten und sagten, die würden sie allesamt töten, wenn er nicht berichtete, wer die "Verräter" seien. Nicht einmal, als man ihn mit auf dem Rücken gefesselten Händen zum Hof hinausführte und ihn vor den Leichen der soeben hingerichteten anderen Nachrichtenhörer auf die Knie zwang, machte er den Mund auf.

Meist handelte es sich um sehr junge Männer und Frauen, die sich gegen Bezahlung in Form von Brot oder Lebensmitteltalons überreden liessen, sich anstelle der Angeforderten deportieren zu lassen, damit die Quote der Deportierten stetig und ausgeglichen blieb.

Zuweilen treten Biebow und er zusammen vor die Öffentlichkeit. Ein seltsamer Anblick – der Mann, der die Schläge ausgeteilt, und der Mann, der die Schläge empfangen hat, Seite an Seite. Biebow trägt obendrein die Hand, die den Präses geschlagen hat, noch immer verbunden in der Schlinge, und der Präses trägt seine blutigen Schnittwunden und sein zugeschwollenes Auge wie eine Maske vor dem, was sein richtiges Gesicht sein musste.

Er stand da, die wertlosen Gettomarkscheine in der Hand, und als er daran dachte, wie jemand dieses lächerliche Papiergeld Jahr um Jahr zusammengespart, wie er geknausert hatte, in dem Glauben, sich irgendwann etwas dafür kaufen zu können, fing er an zu lachen.

Er kann sich nicht erinnern, schon ein einziges Mal in seinem Leben geweint zu haben. Nicht einmal, als sie ihm Lida nahmen, hat er geweint. Jetzt weint er, vielleicht vor allem, weil niemand mehr da ist, um den man weinen kann.

Vom Tod hat er viel gesehen, doch es ist das erste Mal, dass er einen Menschen getötet hat. Obendrein einen Deutschen. Mancher würde gewiss sagen, dem Schwein sei recht geschehen. Für ihn aber ist die Handlung noch immer zu gross, als dass er sie mit Worten oder Gedanken voll erfasste.